W. Ort: Heinrich Zschokke 1771–1848

Cover
Titel
Heinrich Zschokke 1771–1848. Eine Biografie


Autor(en)
Ort, Werner
Erschienen
Baden 2013: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
URL
von
Tobias Kaestli

In der Zeit des Übergangs von der alten Eidgenossenschaft zur modernen Schweiz war Heinrich Zschokke ein hervorragender Förderer des schweizerischen Nationalbewusstseins. Seine «Schweizerlandsgeschichte für das Schweizervolk» ist die wohl am meisten gelesene und einprägsamste Darstellung der Schweizer Geschichte, die es je gab. Bis zu seinem Tod wurde sie siebenmal neu aufgelegt und danach von seinem Sohn Emil in erweiterter Form noch zweimal neu herausgegeben. Neben diesem historischen Hauptwerk zeugt eine sehr grosse Zahl unterschiedlichster und zum Teil schon im Jünglingsalter entstandener Schriften von seiner Produktivität und republikanischen Gesinnung. Philipp Albert Stapfer, der Kulturminister der revolutionären Helvetischen Republik von 1798, erkannte Zschokkes Talent und machte den Deutschen, der erst kurz zuvor Schweizer geworden war, zum Leiter des helvetischen Büros für Nationalkultur. Zschokke
Entfaltete eine rege propagandistische Tätigkeit. Seine grösste Wirksamkeit erreichte er allerdings erst später als prominenter Bürger des Kantons Aargau. Dort, in seiner Wahlheimat, war er politisch, administrativ und vor allem schriftstellerisch tätig und wurde zum Stammvater einer Familie, die bis heute viele Gelehrte, Architekten, Bauunternehmer, Künstler und Schriftsteller hervorgebracht hat.

Geboren wurde Zschokke als Sohn eines Tuchmachers in Magdeburg. Nach einer nicht reibungslos verlaufenen Schulzeit wurde er als Sechzehnjähriger Hauslehrer bei einem Buchdrucker in Schwerin. Nebenher schrieb er volkstümliche Erzählungen, wurde dann Autor einer Wanderbühne und nannte sich «homme de lettres». Mit 19 Jahren ging er an die Universität Frankfurt an der Oder, wo er beim liberalen Theologen und Philosophen Gotthilf Samuel Steinbart im Eiltempo studierte und doktorierte. Mit 21 Jahren war er Privatdozent. Auf einem Urlaub in seiner Heimatstadt Magdeburg bekam er Gelegenheit, die Kanzel zu besteigen und als Prediger sein rhetorisches Talent zu üben. Zum Pfarrer fühlte er sich aber nicht berufen. Er war kein frommer Christ, eher ein Freigeist und Moralist. Später sollte er in Aarau eine Freimaurerloge gründen.

1796 wurde Zschokke Lehrer am renommierten Seminar Reichenau in Graubünden und bald schon dessen Direktor. Er schrieb ein Lehrbuch für dieVolksschule und wollte, dass es auf Romanisch übersetzt werde, weil dies die eigentliche Sprache des Volkes sei. Doch das Ende der alten Eidgenossenschaft im Jahr 1798 führte ihn auf andere Wege. Er schloss sich der helvetischen Revolution an. Weil er die Rache der Bündner Aristokraten zu fürchten hatte, floh er nach Aarau, der ersten Hauptstadt der Helvetischen Republik. Er erhielt das helvetische Bürgerrecht und wurde, wie schon erwähnt, Leiter des Büros für Nationalkultur. Nach der gewaltsamen Niederwerfung des innerschweizerischen Widerstands gegen das von Frankreich gestützte Regime schickte ihn die helvetische Regierung als Regierungskommissär nach Stans. Dort betreute Pestalozzi, ebenfalls im Auftrag der helvetischen Regierung, eine grosse Gruppe von Waisenkindern. Ein enges Verhältnis zwischen den beiden entstand nicht. Zschokke widmete sich allgemeinen administrativen Fragen, bekämpfte die Bettelei und versuchte, in Obwalden die Tuchmacherei einzuführen, die er von seinem Vater her kannte. Das nötige Geld fehlte, seine Pläne liessen sich nicht verwirklichen.

Die Mediation beendete die revolutionäre Phase der Helvetik. 1804 wurde Zschokke im Kanton Aarau zum Oberforst- und Bergrat ernannt, 1810 wurde er kantonaler Oberforstinspektor. In dieser Zeit gründete er eine Gerberei und ein Handelshaus für Leder. In dieser Sparte vermochte er sich aber nicht zu behaupten und verlor viel Geld. Dass er trotzdem schon bald zu einem beträchtlichen Vermögen kam, verdankte er seinem Schreibtalent, wobei ihm die Geschäftstüchtigkeit seines Verlegers Heinrich Remigius Sauerländer zustattenkam. Während 20 Jahren sass Zschokke im Grossen Rat des Kantons Aargau. Die 1798 von ihm gegründete populäre Zeitschrift «Der aufrichtige und wohlerfahrene Schweizer-Bote» betreute er bis 1836. Im Oktober 1822 erschien dort das erste Kapitel seiner Schweizer Geschichte. In der Ankündigung schrieb er: «Von wunderbaren Dingen, Heldenfahrten, guten und bösen Tagen der Väter ist viel gesungen und gelehrt. Nun will ich die alten Sagen verjüngen im Gemüth alles Volks.»

«Das Volk» war der zentrale Begriff in Zschokkes Weltanschauung. Sehr schön stellt Werner Ort dar, wie der junge Zschokke von seinem Aufklärungsoptimismus abkam und angesichts der immer wieder vorkommenden Kriegsgreuel zeitweise einem tiefen Pessismismus verfiel, um dann aber seine fortschrittsorientierte Geschichtsphilosophie sozusagen aus der Volksseele heraus zu rekonstruieren. Damit bereitete er die Vorstellung vom «guten Volk» vor, die in der Zeit des Radikalismus zur tragenden Idee eines demokratisch begründeten Staates werden sollte. Dabei war er allerdings überzeugt, dass das Volk der moralischen Erziehung bedürfe, um seine Seele dem Guten zuzuwenden.

Solche Überlegungen finden sich in Zschokkes autobiographischen Schriften, die schon bisher über sein Leben Auskunft gegeben haben. Abgesehen davon, dass sie heute kaum noch bekannt sind, vermögen sie dem Bedürfnis nach einem umfassenden und kritischen Lebensbild in keiner Weise zu genügen. Erst mit der von der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft initiierten wissenschaftlichen Arbeit von Werner Ort bekommen wir eine solide, interessante, stellenweise vielleicht etwas allzu weit ausholende Biographie in die Hand. In fruchtbarer Art hat der Biograph Geschichtsforschung und Literaturforschung miteinander verknüpft und ein differenziertes Lebens- und Zeitbild geschaffen. Die Stofffülle hat er klug gegliedert und nie lässt er ob all der Erlebnisse und Taten Zschokkes den historischen Kontext vergessen. Mit diesem Werk ist ein grosser Schritt zum besseren Verständnis der Geschichte der Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts getan.

Zitierweise:
Tobias Kaestli: Rezension zu: Werner Ort, Heinrich Zschokke 1771–1848. Eine Biografie, Baden: hier + jetzt, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 335-337.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 335-337.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit